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Channel: frl. krise interveniert » Endlich perfekt?
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Gründonnerstag

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„Ich habe doch nur EINEN Gin Fizz bestellt!“ sage ich und starre auf die beiden randvoll gefüllten (Latte Macchiato-) Gläser, die der Kellner für mich schwungvoll auf den Tisch knallt. Ich kann nicht gut sehen in der schummrigen Ecke der Cocktailbar und rutsche nervös auf einem niedrigen Lederhocker hin und her.
„Is ist doch häppy hour, Frl. Krise!“ sagt Dennis und prostet mir zu. Er trinkt etwas Milchiges aus einem Riesenpokal und rollt verzückt mit den Augen. „Bei häppy hour gibt’s immer zwei Gläser auf einmal! Darum treffen wir uns ja auch hier!“
Die anderen nicken – das heißt, soweit sie ihn hören können. Die Musik ist nämlich sehr laut.

Wir haben Klassentreffen. Wir, das sind Frau Herz, unsere beiden vorvorletzten Klassen und ich.
Dreizehn Schüler aus meiner Klasse sind gekommen – von vierundzwanzig. Immerhin.
Klassentreffen – so was kriegen Unsere sonst gar nicht hin. Aber Sina und Gina haben alles organisiert – wie früher!
„Kinder, ihr habt euch ja kaum verändert!“ stelle ich fest und schon nach wenigen Minuten herrscht alte Vertrautheit. Schön ist das! Diese Klasse war aber auch immer nett. Einundzwanzig bis Zweiundzwanzig sind sie jetzt, verlobt, verheiratet und geschieden. Kinder wurden auch schon gezeugt…
Einige haben sich jedoch aufs Lernen konzentriert.„Frl. Krise, Sie haben gesagt, ich schaffe niemals Abi! Aber ich habe es geschafft!“ Ying sieht mich triumphierend an. „Und Pascale hat es auch geschafft und Oktay auch!“ Ich bin beeindruckt. „Jungs, damals wart ihr aber noch auf einem ganz anderen Trip!“ Pascal grinst: „Ja, wa? Aber Sie haben nicht umsonst gepredigt!“ Die drei wollen Ingenieure werden, Sina und Nesli sind medizinische Fachangestellte, Dennis ist Fliesenleger, Gina Hotelfachfrau, Zora macht das Abitur nach, Sascha ist beim Bund und Mike Verkäufer an der Fleischtheke. Volkan schüttelt ein bisschen verlegen den Kopf – er war Security, ist aber gerade arbeitslos. Dafür erwartet seine Frau in vier Wochen einen kleinen Jungen.
Als letzte schneit dann noch Su Ellen herein, doch davon später.
Sascha hat jede Menge Fotos dabei (auf dem iphone!) und wir amüsieren uns beim Ansehen. „Wie sie aussieht! Was er anhat!“
Und alle sind sich einig: „Die Schule war voll die schönste Zeit in unserem Leben!“
DA! Da ist es wieder… ‘Schule – die schönste Zeit in unserem Leben’. Innerlich schüttele ich den Kopf. Himmel, warum sagen das alle Schüler, die ich nach Jahren wieder sehe? Wie traurig, wenn nach der Schulzeit nichts Tolles mehr kommt! Für uns damals fing doch da erst richtig das Leben an! Studieren, die Welt und interessante Leute kennen lernen…

Wie auf allen Klassenfotos sitzt auch heute Abend Mike dicht neben mir. Dennis berichtet wie immer von seiner schwierigen Coexistenz mit den „Bullen“, Sina und Gina lipglossen sich im fünf-Minuten-Rhythmus und Volkan verschwindet unauffällig, um eine zu rauchen. Genau wie früher.
Plötzlich wird es still. Sue Ellen hat ihren Auftritt. Ein bisschen ratlos steht sie vor uns. Ich erkenne sie kaum. Um Gottes Willen! Was ist mit ihrem Gesicht passiert? Was mit ihrer Brust?
„Operiert!“ sagt Frau Herz später. „Grauenhaft!“
Sie mache gerade mit Hilfe eines Fernkurses ihr Abi nach, wolle dann Psychologie studieren und arbeite zur Zeit in der Gastronomie… „In einer Bar!“ argwöhnt Frau Herz.
Nach drei Stunden endet die häppy hour und unser Treffen. Zum Abschied überreichen mir Sina und Nesli eine Flasche Wein und eine Schachtel Pralinen. Auf einer Karte, von allen unterschrieben, steht:
„Danke! Und viel Glück auf ihrem Lebensweg!“
„Sie haben doch damals nichts von uns bekommen, als wir aus der Schule gingen!“ sagt Sina. „Aber jetzt, wo sie pensioniert werden, verabschieden wir uns richtig.“ Wie süß! Ich bin gerührt…

Den größten Schlag versetzt mir Lenny aus der Klasse von Frau Herz. Er schüttelt mir zum Abschied die Hand: „Was ich Sie den ganzen Abend fragen wollte, Frl. Krise! Mögen Sie immer noch Mascha Kaleko?“
Verwirrt nicke ich – wie kommt denn der jetzt darauf?
„Ich musste dran denken, als ich hierher lief! Ich kam an der Bleibtreustraße vorbei, und da… wir hatten doch die Gedichte in Deutsch bei Ihnen. Mascha Kaleko hatte doch so Heimweh nach ihrem Berlin und ihrer Straße. Die Bleibtreustraße!“
„Das hast du dir gemerkt?“ Ich bin platt. Lenny, der vor sich hin schlief oder mit Pascal quatschte… Der hat sich das gemerkt?
„Ganz ehrlich, Frl. Krise! Schöne Gedichte sind das…! Wissen Sie was? Ich lese jetzt auch Bücher…!“

Frau Herz und ich schliddern leicht beschwipst über das vereiste Trottoir zur U-Bahn. (Dabei habe ich nicht mal mein erstes Glas ausgetrunken und Frau Herz blieb ganz bei Kaffee und Selters!) Es ist eiskalt und ein schneidender Ostwind fegt über die Straße. Wir klammern uns aneinander.
„Da siehste mal!“ sage ich euphorisch und drücke ihren Arm. „Wird doch noch was aus ihnen!“
„Hm,“ sagt Frau Herz und bleibt stehen. „Es ist wie mit Aktien, Frl. Krise. Am besten man guckt erst nach ein paar Jahren wieder danach!“



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